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Sozialpolitik

 
1. Definition. Mit S. wird sowohl ein Bereich politischer Aktivität (S. als Praxis) als auch eine wissenschaftliche Disziplin bezeichnet (S.-lehre), die der wissenschaftlichen Durchdringung dieses politischen Handlungsfeldes dient. Träger der S. können internationale Organisationen (z.B. Weltgesundheitsorganisation der UN; International Labour Office), staatliche und staatlich autorisierte Organe oder Betriebe sein. Im folgenden wird nur die staatliche S. dargestellt. Diese läßt sich definieren als jenes staatliche politische Handeln, das darauf zielt, durch den Einsatz geeignet erscheinender Mittel die wirtschaftliche und/od. die gesellschaftliche Stellung solcher Personengruppen, die absolut oder im Vergleich zu anderen Gruppen als schwach angesehen werden, zu verbessern, u. zw. im Sinn der in einer Gesellschaft verfolgten wirtschaftlichen und sozialen Grundziele (Sicherung und Erhöhung der materialen Freiheit aller durch Absicherung der Erwerbsmöglichkeiten und ein System sozialer Sicherheit, Durchsetzung der Start- und Verteilungsgerechtigkeit, Sicherung des sozialen Friedens).
2. Die Notwendigkeit zur S. besteht wirtschaftssystemunabhängig in jeder entwickelten, arbeitsteilig (Arbeitsteilung) organisierten Gesellschaft, weil a) ohne Sozialpolitik absolute oder relative wirtschaftliche und  daraus resultierend  soziale Schwäche für Behinderte, Kranke und aus anderen Gründen Erwerbsunfähige (Kinder, alte Menschen) bestehen würde, b) Unterschiede in den angeborenen und erworbenen Fähigkeiten und in den Chancen ihrer wirtschaftlichen Verwertung bei rein wirtschaftlicher Leistungsbewertung große Einkommensunterschiede bewirken würden und c) das wirtschaftssystemunabhängige Streben der Betriebsleiter nach maximaler ökonomischer Effizienz eine Gefährdung der Gesundheit (z.B. durch überlange Arbeitszeiten und zu hohe Arbeitsgeschwindigkeit) und anderer elementarer Interessen der Arbeitskräfte (z.B. an ausreichenden Ruhezeiten und Freizeiten und an möglichst sicheren Arbeitsplätzen) darstellt. Historisch gesehen wurde die neuzeitliche S. nötig, um die soziale Frage (Arbeiterfrage) zu lösen, die den inneren Frieden und die seinerzeit bestehende Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung gefährdete. Die Arbeiterfrage des 19. Jh. bestand darin, a) daß die große Masse der Arbeitnehmer ihre Existenz nur durch die wirtschaftliche Verwertung ihrer Arbeitskraft sichern konnte, also unter Angebotszwang stand, und daß die Verfassung sowie die Angebots-/Nachfrageverhältnisse auf den Arbeitsmärkten bewirkten, daß die Arbeitnehmer bei gesundheitsgefährdenden Arbeitsplatz- und Arbeitsplatzumweltverhältnissen und über 70 stündigen Wochenarbeitszeiten kaum existenzsichernde Löhne verdienten, b) daß die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung gegen die wirtschaftlichen Folgen von Risiken, wie Krankheit, Invalidität, Alter und Arbeitslosigkeit sie darstellen, nicht geschützt war. Weitere Merkmale der Lebenslage der Arbeiter waren c) unzulängliche Wohnverhältnisse, d) ihre Vermögenslosigkeit und e) die fehlende Anerkennung als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft und fehlende Chancen sozialen Aufstiegs.
3. Bereiche der S. Die soziale Frage als Arbeiterfrage gilt als gelöst a) durch die Arbeitnehmerschutzpolitik mit ihrem Arbeitszeitschutz, ihrem Kinderarbeitsverbot, ihrem Jugendlichen-, Mutter- und Schwerbeschädigtenschutz, dem Unfallschutz, ihren Urlaubsregelungen und Kündigungsschutzbestimmungen, b) durch das System sozialer Sicherung, das mit der Renten-, Unfall-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung die Mehrzahl der Gesellschaftsmitglieder gegen die wirtschaftlichen Folgen vorübergehender oder dauernder Erwerbsunfähigkeit bei Krankheit, Invalidität, im Alter und bei Arbeitslosigkeit sowie gegen die wirtschaftlichen Folgen des Todes des Ernährers sichert und mit der Sozialhilfe auch solche Bürger vor Not zu bewahren sucht, die keine Ansprüche gegen die Sozialversicherung haben; c) durch die auf die Ausgestaltung der Betriebs - und Unternehmensverfassung gerichtete Gesetzgebung, durch die den Arbeitnehmervertretern Informations-, Einspruchs-, Mitberatungs- und Mitbestimmungsrechte zuerkannt wurden in bezug auf die Gestaltung von Arbeitsplatz, Arbeitsablauf, Arbeitsumgebung, Arbeitszeit, Entlohnungsformen, Einstellung, Kündigung; d) durch die Arbeitsmarktpolitik , die zum einen durch Berufsberatung, Arbeitsvermittlung, Förderung der beruflichen Umschulung und Fortbildung sowie Förderung der regionalen Mobilität die Arbeitsmarktbedingungen für die Arbeitnehmer verbessert und zum anderen durch die Veränderung der Arbeitsmarktform mit Hilfe der Koalitionsfreiheit und der Tarifautonomie der Sozialpartner zu einer nachhaltigen Verbesserung der Arbeitseinkommen beiträgt. Während die in den genannten vier Bereichen entwickelte S. ganz überwiegend Schutzpolitik in dem Sinn war und ist, daß sie erstens dem Schutz der Arbeitnehmer vor Gefahren, vor Beeinträchtigungen ihrer Lebenslage und vor Einkommensverlusten dient und zweitens gleichzeitig die gegebene Gesellschaftsordnung schützt, wurde  beginnend etwa in den 30er Jahren unseres Jh.  die S. im Laufe der Zeit mehr und mehr zu einer Ausgleichs- und Gesellschaftspolitik, die nach weitgehender Erreichung der Sicherung der Bevölkerung vor den sog. Standardrisiken erstens die Verringerung von Einkommens- und Vermögensunterschieden sowie unterschiedlicher sozialer (Familien-)Lasten und zweitens die Abmilderung von Folgen dieser Unterschiede in den Vordergrund ihrer Bemühungen rückte. Bereiche dieser Art S. sind a) die Familienpolitik, die versucht, durch steuerliche Entlastungen und finanzielle Beihilfen die Familie ökonomisch zu entlasten und die Regenerations- sowie die Sozialisationsfunktion von Familien mit Kindern finanziell anzuerkennen; b) die Wohnungspolitik, die durch den Einsatz öffentlicher Mittel in Form von Darlehen , Bürgschaften und Zuschüssen, durch Steuer - und Abschreibungsvergünstigungen, Baulandbereitstellung und Förderung des Bausparens allen Bürgern Wohnraum zugänglich machen will, der bestimmten quantitativen und qualitativen Anforderungen entspricht; c) Bildungspolitik mit dem Ziel, ungleiche materielle wirtschaftliche Startbedingungen auszugleichen; d) Vermögenspolitik durch Förderung der Vermögensbildung in breiten Schichten und Bekämpfung von Konzentrationsprozessen mit dem Ziel, eine den herrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen entsprechende, gleichmäßigere Verteilung der  Vermögen zu erreichen; e) Mittelstandspolitik in Form der Agrarsozialpolitik (Agrarpolitik) und der Handwerkspolitik (Gewerbepolitik) mit dem Ziel, eine möglichst große Zahl selbständiger, leistungsfähiger mittelständischer Existenzen aufrechtzuerhalten; f) Jugend- und Altenhilfepolitik, die sich bemüht, diese spezifischen, relativ zu den mittleren Generationen wirtschaftlich schwächeren Gruppen zu schützen und die Durchsetzung ihrer spezifischen, altersbedingten Bedürfnisse zu sichern.
4. Instrumente. In der S. wird ein reichhaltiges Arsenal von Instrumenten eingesetzt. Die Skala reicht von rechtlichen Mitteln (Verbote und Gebote im Arbeitnehmerschutz, Betriebsverfassungsnormen, arbeitsrechtliche Bestimmungen) über die Instrumente der allgemeinen Wirtschaftspolitik (beschäftigungspolitische, konjunkturpolitische, geldpolitische Instrumente) und über finanzpolitische Mittel (Steuern, Beiträge , Sozialtransfers, Subventionen) bis hin zu Mitteln spezieller Wirtschaftspolitiken (staatliche Preispolitik, Lohnpolitik , Wettbewerbspolitik , Verbraucherschutzpolitik; Verbraucherpolitik).
5. Träger. Träger der S. sind neben den staatlichen Organen auf den verschiedenen staatlichen Ebenen (Bund, Länder, Kreise, Städte und Gemeinden) die sog. Parafisci (Rentenversicherungsträger, Unfallberufsgenossenschaften, Krankenkassen) und die Verbände der freien Wohlfahrtspflege (z.B. Caritas und Diakonisches Hilfswerk der evangelischen Kirche) sowie die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände , die vor allem Träger der Arbeitsmarktpolitik sind. Das außerordentliche Gewicht der S. und ihre Bedeutung für den volkswirtschaftlichen Kreislauf (Wirtschaftskreislauf) lassen sich daran ablesen, daß sich die Sozialleistungen (ohne neue Bundesländer) 1991 auf 764,0 Mrd EUR  das waren 29,0% des Bruttosozialproduktes  beliefen.

Literatur: W. Albers/H. Hax/H. Henning/H. Lampert/F. Schubert, Art. S. I bis V (staatl. S., betriebl. S., Geschichte der S., S. in der BRD, S. in der DDR), in: HdWW, Bd. 7, 1977. D. Kath, Sozialpolitik, in: Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Bd. 2,
4. A., 1992, S. 401ff. H. Lampert, Lehrbuch der S.,
2. A., 1991. H. Lampert/A. Bassert, Sozialstaat Deutschland, Entwicklung  Gestalt  Problem. München 1992. B. Molitor, Soziale Sicherung, 1989.

 

 


 

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