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Sozialrecht


Inhaltsübersicht
I. Begriff
II. System des Sozialrechts
III. Die einzelnen Zweige und die Definition des Sozialrechts
IV. Rechtsschutz im Sozialrecht
V. Kritik am Sozialrecht und dessen Zukunft

I. Begriff


Der Begriff „ Sozialrecht “ ist missverständlich, mehrdeutig und schillernd. Er könnte dahin missverstanden werden, als ob „ Sozialrecht “ der das soziale Zusammenleben schlechthin regelnde Teil des Rechts wäre. Im rechtswissenschaftlichen Sprachgebrauch sind drei unterschiedliche Verwendungsweisen des Begriffes zu finden: die durch den sozialen Gedanken – Schutz des Schwächeren – geprägten Teile des Rechts (vgl. Radbruch,  1957, S. 35), ein drittes Teilgebiet des Rechts neben dem Privatrecht einerseits und dem öffentlichen Recht andererseits (Gierke, von,  1889; Gurvitch,  1931; Ven, van der,  1972, S. 167 ff.; Kaufmann,  1994, S. 92), oder ein eigenes Rechtsgebiet, das die Sozialleistungen zum Gegenstand hat.
Nachfolgend wird „ Sozialrecht “ (umfassend zur Begriffsgeschichte Schmid,  1981) als rechtssystematischer Begriff verstanden. Er bezeichnet das Rechtsgebiet, welches die Gewährung und Finanzierung von Sozialleistungen zum Gegenstand hat. „ Sozialrecht “ regelt nicht das soziale Zusammenleben schlechthin. Denn dieses ist Gegenstand des gesamten Rechts (Zacher,  1993b, S. 257). „ Sozialrecht “ ist auch nicht mit sämtlichen, vom sozialen Gedanken geprägten Teilen des Rechts bedeutungsgleich. Regelungen, die den Schwächeren schützen sollen, finden sich vielmehr in zahlreichen Rechtsgebieten (dazu Hippel, von,  1982): Schuldner-, Mieter- oder Verbraucherschutz (Weitnauer,  1975; Eichenhofer,  1996, S. 857), ein dem Schutz der Arbeitnehmer verpflichtetes Arbeitsrecht, ein der Resozialisierung von Tätern verpflichtetes Strafrecht, die Freistellung der Geringverdiener von der Einkommenssteuer sowie der mit steigendem Einkommen relativ wie absolut wachsende, progressive Einkommenssteuertarif als Beispiele für ein „ soziales Steuerrecht “ (vgl. Lehner,  1993), bis hin zur Prozesskosten- und Beratungshilfe, Unpfändbarkeitsanordnungen für lebensnotwendige Sachen und die der Existenzsicherung dienenden Forderungen als Beispiele für ein „ soziales Prozessrecht “ . Durch „ soziales Recht “ wird der soziale Gedanke bei der Regelung von Rechtsmaterien zur Geltung gebracht, die ihrerseits nicht den Schutz des Schwächeren bezwecken.
Dem Sozialrecht als eigenständigem Rechtsgebiet ist der Schutz des Schwachen Leitmotiv und Leitbild (Wannagat,  1965, S. 170). Im Gegensatz zu allen anderen Rechtsgebieten wurde das Sozialrecht geschaffen und ist deshalb geradewegs dazu bestimmt, den Schwachen zu schützen. Der soziale Gedanke ist Grund und Grenze des Sozialrechts. Das Sozialrecht ist daher eine Teilmenge des sozialen Rechts, das seinerseits eine Teilmenge des Rechts ist. Das in diesem Sinne verstandene Sozialrecht steht nicht jenseits von Privat- und öffentlichem Recht, sondern bildet vielmehr ein Teilgebiet des öffentlichen Rechts, das im Wesentlichen die öffentlich-rechtliche Leistungsverwaltung normiert. Es steht damit im Gegensatz zu den verschiedenen Erscheinungsformen der öffentlichen Eingriffsverwaltung von der Steuer-, Wehr- bis hin zur Wirtschaftsverwaltung. Während diese durch staatliche Verbote mit Erlaubnisvorbehalt geprägt ist, wird jene durch staatliche Leistungspflichten gekennzeichnet.

II. System des Sozialrechts


1. Sozialrecht und Sozialgesetzbuch


Während anderen Staaten das sprachliche Pendant zum deutschen Wort „ Sozialrecht “ – z.B. social law, diritto sociale oder derecho social – entweder fehlt oder einen anderen Sinn hat (so bedeutet „ droit social “ in deutscher Terminologie: das Arbeits- und das Sozialrecht; vgl. Schmid,  1981, S. 52 ff.; Weidner,  1959, S. 698 ff.), geht der in Deutschland verbreitete Sprachgebrauch im Wesentlichen auf den mit Beginn der 1970er Jahre und auch heute noch nicht vollständig abgeschlossenen Versuch einer Kodifikation sämtlicher die Gewährung von Sozialleistungen betreffenden Rechtsregeln in einem Gesetzbuch: dem Sozialgesetzbuch zurück (dies ist der formelle Sozialrechtsbegriff; vgl. Zacher,  1993a, S. 249 ff.). Dieses ist inzwischen in Teilen verabschiedet und in mehrere mit römischen Zahlen gekennzeichnete Bücher untergliedert. Im Jahre 2005 sind folgende Bücher des Sozialgesetzbuches in Geltung: Allgemeiner Teil des Sozialrechts (SGB I), Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II), Arbeitsförderung (SGB III), Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung (SGB IV), Krankenversicherung (SGB V), Rentenversicherung (SGB VI), Unfallversicherung (SGB VII), Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII), Behindertenrecht (SGB IX), Verwaltungsverfahren (SGB X), Pflegeversicherung (SGB XI) und Sozialhilfe (SGB XII).
Die einführende und einleitende Bestimmung dieser Kodifikation lautet (vgl. § 1 Abs. 1 SGB I): „ Das Recht des Sozialgesetzbuches soll zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit Sozialleistungen ? gestalten. “ Regelungsgegenstand des Sozialrechts sind – also – die Sozialleistungen; Regelungsimpuls ist dabei die Förderung sozialer Gerechtigkeit und Regelungsziel ist die Verwirklichung sozialer Sicherheit. Der Begriff der Sozialleistungen wird in § 11 SGB I zwar als Oberbegriff für Dienst-, Sach- und Geldleistungen exemplifiziert, indes nicht definiert. Der Begriff erschließt sich jedoch aus den §§ 2 – 10 SGB I: Sozialleistungen sind danach die Geld-, Dienst- oder Sachleistungen, die ein Träger öffentlicher Gewalt dem Einzelnen schuldet. Die Rechtsgründe für solche Leistungspflichten sind in den §§ 3 – 10 SGB I aufgeführt: Bildungs- und Arbeitsförderung, Sozialversicherung (= Kranken-, Pflege-, Unfall-, Rentenversicherung), soziale Entschädigung (z.B. Leistungen der Soldatenversorgung oder Gewaltopferentschädigung), Minderung des Familienaufwands (Kinder- und Erziehungsgeld), Wohngeld, Jugend- und Sozialhilfe oder Eingliederung von Behinderten. Das SGB setzt voraus, dass sich der Begriff „ Sozialleistungen “ nur auf die Leistungen öffentlicher Träger beschränkt, indes nicht die ebenfalls sozial motivierten Leistungen privater Wohlfahrtsverbände (Suppenküchen, Kleiderspenden, Müttergenesungswerk) oder der Arbeitgeber (Betriebsrenten, Ferienheimplätze oder Kindergärten) umschließt. Gegenstand des Sozialrechts ist daher mit Ausnahme des Subventions- und Beamtenrechts das Recht der öffentlichen Leistungsverwaltung, welches seinerseits ein zentraler Teil des besonderen Verwaltungsrechts bildet (vgl. auch Ruland,  2003, S. 779 ff.; Schnapp,  2000, S. 798 ff.).

2. Ziele des Sozialrechts


Impuls – d.h. Entstehungsgrund und gesetzgeberisches Motiv – für sozialrechtliche Regelungen ist das Streben nach sozialer Gerechtigkeit. Dieser Begriff ist unklar und höchst umstritten. Skeptiker sehen darin eine „ nichtssagende Formel “ (Hayek, von,  1977, S. 23) – ja die Anmaßung zur Korrektur der Verteilungsergebnisse der Marktwirtschaft (Hayek, von,  1977, S. 30; Hayek, von,  1971, S. 366 ff.). Andere sehen darin eine Ausformung des Rechts- oder Sittengebots der Brüderlichkeit (vgl. Zacher,  1993c, S. 308 ff.; vgl. auch Titmuss,  1974, S. 26: Sozialpolitik ist danach „ action-oriented “ , „ problem-oriented “ , „ a positive instrument of change “ , „ an unpredictable, incalculable part of the whole political process “ ) oder Solidarität – Ausdruck gegenseitiger Verbundenheit der Menschen untereinander und wechselseitiger Verantwortlichkeit im Füreinander Einstehen (Wannagat,  1987, S. 773, 787 ff.), letztlich die Folgerung aus dem Prinzip der Sozialstaatlichkeit (Art. 20, 28 GG), das den Staat zu aktiver Sozialgestaltung ermächtigt und anhält.
Die Zielvorstellung der sozialen Gerechtigkeit wird in § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB I umrissen: Sozialrecht soll „ dazu beitragen, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit ? zu schaffen, die Familie zu schützen und zu fördern, den Erwerb des Lebensunterhalts durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen und besondere Belastungen des Lebens ? abzuwenden oder auszugleichen “ . Hierin äußert sich das klassische Anliegen der Gerechtigkeit, jedem Einzelnen das ihm Gemäße zuzuwenden (Justitia est constans ac perpetua voluntas ius suum quique tribuens [Satz 1 der Institutionen des Gaius]). Ferner formuliert wird das Ziel des Sozialrechts vom Boden einer „ funktionalen Theorie des Sozialstaats “ (dazu Höffe,  1987, S. 469 ff.; Kramer,  1992, S. 102 ff.; Rawls,  1977, S. 104 ff.). Danach hat der Staat die Rahmenbedingungen für die Entfaltung der Freiheitsrechte des Einzelnen zu schaffen, namentlich Menschenwürde, Handlungsfreiheit, Familie und Erwerbsfreiheit (Art. 1, 2, 6, 12 GG) zu sichern. Diese Aufgabe umschließt die Schaffung von Sozialleistungen. Aus der in §§ 3 – 10 SGB I enthaltenen Aufzählung von sozialrechtlichen Institutionen folgt, dass das Sozialrecht unterschiedlichen Leitbildern von Gerechtigkeit verpflichtet ist (hierzu Zacher,  1993c, S. 308 ff.) – nämlich der Beförderung von Bedarfsgerechtigkeit (§§ 7 ff. SGB I), Chancengerechtigkeit (§§ 3, 6, 10 SGB I) sowie der Leistungs- und Besitzstandsgerechtigkeit (§§ 4 f. SGB I). Soziale Gerechtigkeit lässt sich also nicht auf ein Leitbild reduzieren. Sie verlangt vielmehr nach einer Kombination und Bündelung unterschiedlicher Leitbilder. Das Sozialrecht entwickelterer Staaten weist daher eine beachtliche Vielschichtigkeit und Gestaltungsvielfalt auf. Auch im internationalen Vergleich herrschen in den einzelnen nationalen Sozialrechten unterschiedliche Gerechtigkeiten vor: Die Bedarfsgerechtigkeit prägt den liberalen Sozialstaat angelsächsischer Prägung, die Chancengerechtigkeit leitet den skandinavischen, sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat und die Leistungs- und Besitzstandsgerechtigkeit prägt den konservativen, korporatistischen Wohlfahrtsstaat Kontinentaleuropas.

3. Sozialrecht und soziale Sicherheit


Sozialrecht hat soziale Sicherheit zu verwirklichen. Dieser Begriff ist – im Unterschied zum Begriff „ Sozialrecht “ – weltweit verbreitet (vgl. Kaufmann,  1973). Er wurde 1935 von Franklin D. Roosevelt geprägt (Eichenhofer,  1990, S. 16 f., 54 ff.), während des 2. Weltkrieges als Kriegsziel der Alliierten in der Atlantik-Charta (1941) proklamiert und als „ freedom from fear and want “ (= Freiheit von Furcht und Not) umschrieben, fand Eingang in die Prinzipienerklärungen und Übereinkünfte der IAO und kennzeichnet wesentliche Partien des Sozialrechts von Europarat und EU. Der Begriff verheißt Daseinssicherung bei Bedürftigkeit, Einkommenssicherung bei Eintritt sozialer Risiken (Krankheit, Erwerbsunfähigkeit, Unfall, Alter, Tod des Elternteils oder Ehegatten) oder im Falle von Sonderopfern für die staatliche Gemeinschaft und die öffentliche Förderung des Einzelnen und seiner Familie: „ So lebt der moderne Mensch nicht nur im Staat, sondern auch vom Staat “ (Forsthoff,  1968, S. 145, 149; Heclo,  1974, S. 1 ff.). Der Staat ist zum Garanten der Daseinssicherung für eine wachsende Zahl seiner Bewohner geworden, weil ihm aufgetragen ist, soziale Sicherheit zu verwirklichen.
Soziale Sicherheit steht nicht im Dienste sozialer Gleichheit. Die soziale Ungleichheit ist für alle differenzierten, auf Individualfreiheiten gründenden Gesellschaften Voraussetzung und Folge ihrer Existenz. Ein Staat, der vollkommene Gleichheit schaffen wollte, müsste sämtliche Freiheiten beseitigen (Dahrendorf,  1966). Der Gebrauch von Freiheit setzt individuelle Unterschiede voraus und führt zu Ungleichheiten. Soziale Sicherheit schützt in einer auf dem Tauschverkehr beruhenden Wirtschafts- und Rechtsordnung so diejenigen, die aus eigener Kraft ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten könnten. Soziale Sicherheit und Sozialrecht beruhen auf der Annahme (vgl. dazu grundlegend: Zacher,  1982, S. 329 ff.), dass jeder Erwachsene gehalten ist, seinen Lebensunterhalt durch Teilnahme am Tausch- und Wirtschaftsverkehr zu bestreiten. Soziale Sicherheit bedeutet vor diesem Hintergrund, dass durch Sozialleistungen diejenigen zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts befähigt werden sollen, die aus sozial anerkennenswerten Gründen keine Erwerbstätigkeit ausüben können: die Kranken, Erwerbsunfähigen, Alten, Arbeitslosen, Unfall-, Kriegs- oder Verbrechensopfer, Studenten, Erzieher von Kleinkindern. Soziale Sicherheit bedeutet darüber hinaus, dass jedermann – in Gestalt von Sozial- oder Jugendhilfe – von der Gesellschaft eine Mindestsicherung erhält, hierfür aber im Gegenzug bei Arbeitsfähigkeit der Gesellschaft Arbeit schuldet. Soziale Sicherheit und Sozialrecht schaffen damit für jedermann Daseinssicherheit, weil die Bedarfsdeckung von der individuellen Erwerbsfähigkeit unabhängig ist. Der Einzelne ist auch gesichert, falls er nicht arbeiten kann: „ Welfare institutions should be understood as risk management systems “ (Giddens,  1994, S. 137).

III. Die einzelnen Zweige und die Definition des Sozialrechts


1. Die alte Trias: Fürsorge, Versorgung, Versicherung


Das Sozialrecht, das in Ausprägung des sozialen Gedankens den Schwachen schützt und unterschiedlichen Leitbildern der Gerechtigkeit verpflichtet ist, weist notwendig eine komplexe Struktur auf. Sie wird im System des Sozialrechts zum Ausdruck gebracht und dargestellt. So werden manche Sozialleistungen einseitig, andere hingegen nur aufgrund einer an den Träger erbrachten Gegenleistung gewährt. Manche Sozialleistungen sind auf den individuell-konkreten Bedarf (z.B. eine Heilbehandlung), andere dagegen auf den typisierend-abstrakten Bedarf des Empfängers (z.B. das Kindergeld) zugeschnitten. Unter den Sozialleistungen bestehen folglich Unterschiede in den Voraussetzungen und Kriterien der Leistungsbestimmung. Diese Unterschiede wurden in dem historisch überkommenen (Bogs,  1955, S. 15 ff.) Systematisierungsversuch zum Ausdruck gebracht: Danach besteht das Sozialrecht aus einer Trias von Leistungszweigen – nämlich der (Sozial-)Fürsorge, der (Sozial-)Versorgung und der (Sozial-)Versicherung: Fürsorge bedeutet die einseitige konkrete Hilfe, Versorgung die einseitige abstrakte Hilfe (= Hilfe in einer typischen Notlage) und die Versicherung ist die abstrakte Hilfe aufgrund einer erbrachten Vor- oder Gegenleistung.
Diese Systematik gab einen vollständigen und grundsätzlich auch zutreffenden Überblick über das Sozialrecht der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der es jedenfalls in Deutschland eine von Stadt und Landkreis (Kommune) getragene Sozialfürsorge, eine vom Staat getragene Kriegsopferversorgung und eine in die Zweige Kranken-, Renten- und Unfallversicherung untergegliederte, dem Risikoausgleich wie dem sozialen Ausgleich verpflichtete, von den Solidarverbänden der Arbeitnehmer und Arbeitgeber getragene Sozialversicherung gab. Im Zuge der weiteren Ausdifferenzierung des Sozialrechts in der jüngsten Vergangenheit gibt diese Trias indessen kein umfassendes Bild mehr über den Zustand des gegenwärtigen Sozialrechts. Außerdem sind die Bezeichnungen Versicherung, Versorgung und Fürsorge teils mehrdeutig (von Versorgung spricht man auch bei der Beamtenversorgung), teils sprachlich missglückt (so evoziert der Begriff Fürsorge die Objektstellung des Empfängers).

2. Die das SGB leitende Systematik: Vorsorge, Entschädigung, Förderung und Hilfe


Im Zusammenhang mit der Verabschiedung des SGB wurde deshalb von Hans F. Zacher (Zacher,  1993b, S. 257 ff.; dazu Eichenhofer,  1998, S. 328; vgl. ferner Waltermann,  2004, Rn. 64 ff.) eine neue Systematik des Sozialrechts entwickelt. Sie erlaubt eine umfassende Zusammenschau aller gegenwärtig in Deutschland bestehenden Sozialleistungszweige. Sie untergliedert das Sozialrecht in vier Teilgebiete, die sich in Leistungsgrund, Institutionen, Leistungsinhalt und Träger unterscheiden: die Zweige sozialer Vorsorge, sozialer Entschädigung, sozialer Förderung und sozialer Hilfe. Der Leistungsgrund bezeichnet den Zweck, der mit der einzelnen Leistung verfolgt wird; die Institution kennzeichnet die einzelne Leistungssparte; ferner wird unterschieden, ob der Leistungsinhalt typisierend-abstrakt oder individuell-konkret bestimmt ist, und ob der Träger ein Sondervermögen mit eigener Abgabenhoheit, der Staat, der die Leistungen aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert, oder die Kommune ist. Systeme sozialer Vorsorge sind in der Renten-, Kranken-, Pflege-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung ausgebildet. Sie werden von Sozialversicherungsträgern verwaltet. Diese finanzieren sich weit überwiegend aus Beiträgen der Versicherten. Die Rentenversicherung gewährt Leistungen im Alter, bei Erwerbsunfähigkeit sowie beim Tod des Versicherten zugunsten von dessen Hinterbliebenen – Witwen, Witwern und Waisen. Die Krankenversicherung gewährleistet Ansprüche auf Krankenbehandlung (einschließlich zahnärztlicher Behandlung) sowie Einkommensausgleich bei Krankheit. Die Krankenversicherung ist auch Trägerin von Vorsorgemaßnahmen bei Schwangerschaft und Niederkunft und sie trägt das Mutterschaftsgeld. Die Pflegeversicherung schützt im Pflegefall. Die Unfallversicherung erbringt Leistungen bei arbeitsbedingten gesundheitlichen Einbußen – namentlich bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten. Die Arbeitslosenversicherung gewährt bei Arbeitslosigkeit Einkommensersatz und Arbeitsvermittlung. Sie steht in organisatorischer Verbindung mit der Arbeitsförderung. Die Zweige der sozialen Entschädigung dienen dem Ausgleich von Sonderopfern des Einzelnen für die Allgemeinheit. Sie sind in der Kriegsopfer-, Gewaltopfer-, Impfgeschädigtenversorgung und der unechten Unfallversicherung (vgl. § 2 Abs. Nr. 8 – 14, 16 SGB VII: z.B. Unfallschutz für Kindergartenkinder, Schüler, ehrenamtliche Helfer im Gesundheits- und Wohlfahrtswesen, Lebensretter und Organspender) ausgeformt. Die Leistungen werden aus Steuern finanziert. Die soziale Förderung umfasst den Familienleistungsausgleich, die Ausbildungs- und Arbeitsförderung. Die aus Steuern – bei Arbeitsförderung aus Beiträgen – finanzierten Leistungen sollen die Chancengleichheit fördern, namentlich benachteiligten Menschen die Integration in Gesellschaft und Arbeitswelt ermöglichen. Grundsicherung für Arbeitslose und Sozialhilfe dienen der Sicherung des kulturellen Existenzminimums – also der Abwendung konkreter Notlagen. Sie wird von den Städten und Landkreisen getragen und finanziert sich aus Steuermitteln. Sozialhilfe sichert das kulturelle Existenzminimum für Bedürftige. Die Leistungen werden in die Hilfe zum Lebensunterhalt sowie die Hilfe in besonderen Lebenslagen (z.B. Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Alter) unterschieden. (vgl. dazu umfassend Eichenhofer,  2004; Waltermann,  2004).

3. Definition des Sozialrechts


Sozialrecht kann daher definiert werden intensional: als Inbegriff aller Rechtsregeln, die die Gewährung von öffentlichen Dienst-, Sach- oder Geldleistungen an Private aufgrund von Vorsorge, zum Ausgleich eines Nachteils, zur Förderung von Berufsausbildung oder Arbeitsaufnahme oder bei Bedürftigkeit und extensional: als Inbegriff aller Rechtsregeln, die die Sozialversicherung (Renten-, Kranken-, Pflege-, Unfall- oder Arbeitslosenversicherung), soziale Entschädigung (Kriegsopfer-, Gewaltopferentschädigung, Ausgleich von Impfschäden und Fälle der so genannten unechten Unfallversicherung), soziale Förderung (Familienlastenausgleich, Ausbildungsförderung, Grundsicherung für Arbeitslose, Rehabilitation) und die sozialen Hilfen (Sozialhilfe, Grundsicherung für Arbeitslose, Kriegsopferfürsorge, Jugendhilfe, Unterhaltsvorschuss) normieren.

IV. Rechtsschutz im Sozialrecht


Weil Akte der Sozialleistungsgewährung stets die Ausübung öffentlicher Gewalt darstellen und Art. 19 Abs. 4 GG bei Rechtsverletzungen durch Akte öffentlicher Gewalt für jedermann den Rechtsweg eröffnet, bedarf auch das Sozialrecht eines umfassend ausgebauten Rechtsschutzes durch unabhängige Gerichte (Art. 97 GG). Der sozialrechtliche Rechtsschutz ist in Deutschland unterschiedlichen Gerichtsbarkeiten überantwortet: der Sozialgerichtsbarkeit einerseits und der Verwaltungsgerichtsbarkeit andererseits. Jene findet im Sozialgerichtsgesetz (SGG), diese in der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ihre Grundlage. Die Sozialgerichte gewähren Rechtsschutz gegenüber den rechtlich eigenständigen Sozialleistungsträgern (Sozialversicherungsträgern und Bundesagentur für Arbeit) sowie dem Land als Träger der Versorgung (§ 51 SGG). Die Sozialgerichte entscheiden ferner Streitigkeiten zwischen Ärzten und Krankenkassen auf der Grundlage des Vertragsarztrechtes. Soweit sozialrechtlicher Rechtsschutz gegen Träger begehrt wird, die neben ihrer sozialrechtlichen eine nicht-sozialrechtliche Zuständigkeit innehaben – namentlich Städte, Landkreise oder Universitäten – , so ist für diese Streitigkeiten der Rechtsweg zur Verwaltungsgerichtsbarkeit eröffnet; eine Ausnahme besteht im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Diese hat insbesondere über Streitigkeiten der Sozial- und Jugendhilfe, des Krankenhauswesens und Wohngeldes, der Ausbildungsförderung und einzelne Materien des Behindertenrechts zu befinden. Für beide Gerichtsbarkeiten ist eine Beteiligung von Laienrichtern vorgesehen. Beide Gerichtsbarkeiten folgen den Grundsätzen der Amtsermittlung und der materiellen Wahrheit und unterscheiden sich damit vom Zivilprozess, der auf dem Beibringungsgrundsatz und dem Prinzip der formellen Wahrheit (wahr ist, was nicht bestritten ist) gründet.

V. Kritik am Sozialrecht und dessen Zukunft


1. Sozialrecht und Marktwirtschaft


Das Sozialrecht ist in allen entwickelten Gesellschafts- und Rechtsordnungen ein Gebiet von überragender wirtschaftlicher Bedeutung. In den späten 1990er Jahren belief sich der Anteil der Sozialausgaben am deutschen Bruttosozialprodukt auf ein Drittel (Sozialbericht 1997, BT-Drucks. 13/10142, S. 188 ff.). In einer globalisierten Welt wird das Sozialrecht damit zu einem bestimmenden Standortfaktor. Sozialrecht ergänzt die Marktwirtschaft (Zacher,  1993d, S. 166 ff.): Marktwirtschaft sichert zwar die bestmögliche Versorgung, gewährleistet indes nicht die bestmögliche Verteilung des Erwirtschafteten. Sozialrecht schützt diejenigen, die sich mangels eigener Leistungsfähigkeit nicht zureichend durch Teilnahme am Marktgeschehen schützen können. Sozialrecht leistet damit einen wichtigen Beitrag, um die Marktwirtschaft sozial zu machen. Aus dieser Aufgabenstellung erwachsen freilich Zielkonflikte: Marktwirtschaft akzentuiert die Produktion, Sozialrecht dagegen die Verteilung; Marktwirtschaft fordert die Freiheit der Leistungsstarken, Sozialrecht neigt dagegen zur Egalisierung; Sozialrecht, das notwendig korrigierend in die Ergebnisse marktwirtschaftlicher Prozesse eingreift, läuft so Gefahr, die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft zu überfordern; Verfechter marktwirtschaftlicher Belange unterschätzen im Gegenzug die befriedende und leistungsfördernde Wirkung von Sozialrecht.

2. Die „ Krise “ des Sozialrechts


Seit Jahrzehnten wird das Sozialrecht als krisenhaft – weil in seiner Fortexistenz gefährdet – beschrieben (Borchert,  1994; Lampert,  1997; OECD,  1994; World Bank,  1994). Als wesentliche Ursache gelten der durch die Globalisierung ausgelöste Standortwettbewerb, die demographischen Veränderungen (sinkende Geburtenrate bei gleichzeitig steigender Lebenserwartung) und der technologische Wandel, der einerseits zur Heraufkunft einer wissensbasierten Ökonomie führt und andererseits die medizinischen Möglichkeiten erheblich ausweitet. Diese Veränderungen fordern das Sozialrecht vielfältig heraus: wirtschaftlich unattraktive, zu teuere oder zu schlechte Sicherungssysteme verschaffen den im globalen Wettbewerb stehenden Staaten Standortnachteile, die Alterung der Bevölkerung erhöht die Aufwendungen in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung und der durch den technologischen Wandel ausgelöste Strukturwandel verschlechtert die Beschäftigungschancen für gering Qualifizierte wie gleichzeitig die Ausweitung der medizinischen Möglichkeiten die Kosten für die Sicherungssysteme für Alter, Krankheit und Pflege steigen lässt. Angesichts dessen wird ein tiefgreifender Umbau des Sozialrechts gefordert.

3. Elemente einer Reform des Sozialrechts


Es besteht weitgehend Einigkeit, dass den Herausforderungen nur durch eine Begrenzung der Sozialleistungen sowie eine damit einhergehende Stärkung der Eigenvorsorge begegnet werden kann. Außerdem sind die Anreize zu erhöhen, um Sozialleistungsempfänger zur Aufnahme, Ausweitung oder Fortführung einer Erwerbstätigkeit anzuhalten, etwa durch Qualifizierung der Geringverdienenden, Rehabilitation der in ihrer Erwerbsfähigkeit Beeinträchtigten. Weiterhin ist eine spätere Inanspruchnahme von Altersrenten durch die Verlängerung der Lebensarbeitszeit anzuregen. In der konkreten Umsetzung dieser Forderungen erweisen sich die demokratisch gewählten Gesetzgeber indes als eher zögerlich. Denn eine Politik des „ Sozialabbaus “ ist nur selten mehrheitsfähig. So steht das Sozialrecht nicht nur zentral vor der Aufgabe, die beschriebenen Herausforderungen zu bewältigen, sondern obendrein auch die Mehrheitsfähigkeit von Konzepten zu erzielen, die zur Überwindung der Krise des Sozialrechts eine Beschränkung der Sozialleistungen vorsehen und eine erweiterte Eigenvorsorge und Eigeninitiative fordern. In diesem Letzteren liegt die eigentliche Herausforderung einer Krise des Sozialrechts.
Literatur:
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Dahrendorf, R. : Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, 2. A., Tübingen 1966
Eichenhofer, E. : Die sozialpolitische Inpflichtnahme von Privatrecht, in: JuS, 1996, S. 857 – 865
Eichenhofer, E. : Urteilsanmerkung, in: Sgb, 1998, S. 328 – 332
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Heclo, H. : The private government of public money: community and policy inside British politics, London 1974
Hippel, E. von : Der Schutz des Schwächeren, Tübingen 1982
Höffe, O. : Politische Gerechtigkeit, Frankfurt/Main 1987
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Kaufmann, F. X. : Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. A., Stuttgart 1973
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