A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z
wirtschaftslexikon wirtschaftslexikon
 
Wirtschaftslexikon Wirtschaftslexikon

 

wirtschaftslexikon online lexikon wirtschaftslexikon
   
 
     
wirtschaftslexikon    
   
    betriebswirtschaft
     
 
x

Selbstorganisation


Inhaltsübersicht
I. Hintergrundtheorien und Merkmale der autogenen Selbstorganisation
II. Hintergrundtheorien und Merkmale der autonomen Selbstorganisation
III. Ausprägungen der Selbstorganisation im Unternehmen
IV. Handlungsempfehlungen für die Praxis
V. Kritische Würdigung

I. Hintergrundtheorien und Merkmale der autogenen Selbstorganisation


Mit der autogenen Selbstorganisation befassen sich insb. Naturwissenschaftler. Der Physiker Haken, Hermann beobachtete, wie durch die zufällige Verstärkung einer Lichtwelle diese zum „ Ordner “ wurde, allen anderen Wellen ihre Schwingung aufzwang und geordnetes Laserlicht entstehen ließ. Daraus leitete er die Synergetik (Lehre vom Zusammenwirken) ab. In der Biologie verweisen Forscher auf die Selbstorganisation als Charakteristikum alles Lebendigen. Lebewesen haben eine autopoietische Organisation (griech. autos = selbst; poiein = machen). Sie erzeugen sich ständig selbst mit Hilfe der Elemente aus denen sie bestehen. Weitere naturwissenschaftliche Konzepte der Selbstorganisation sind u.a.: die Ökologie, der systemtheoretisch-kybernetische Ansatz, die Theorie dissipativer Strukturen (vgl. Göbel, Elisabeth  1998, S. 39 ff.). Die Naturwissenschaftler übertragen ihre Erkenntnisse analog auf soziale Systeme (vgl. z.B. Foerster, Heinz von  1994). Daneben „ importieren “ Sozialwissenschaftler naturwissenschaftliche Konzepte. Häufig wird etwa die Evolutionstheorie herangezogen, um die Ordnungsentstehung in sozialen Systemen abzubilden. Der evolutionäre Dreierschritt von Variation, Selektion und Retention wird u.a. auf die Entwicklung von Technologien, gesellschaftlichen Regelsystemen und Geschäftsorganisationen übertragen (vgl. Nelson, Richard R.  2000). Neben Konzepten, die sehr nah am biologischen Modell bleiben (so der organisationstheoretische Population Ecology-Ansatz), haben sich Vorstellungen von einem evolutionären Management entwickelt, die sich stärker vom biologischen Urkonzept lösen und Züge eines sozialen Lernprozesses gewinnen. Die Variationen können als bewusste Versuche interpretiert werden, welche entweder als Irrtum verworfen (selektiert) werden oder als bewährte Praktiken die Wissensbasis der Unternehmung erweitern (Retention). Unter dem Begriff der „ lernenden Organisation “ ist im letzten Jahrzehnt die Vorstellung sehr populär geworden, dass sich Ordnung im Unternehmen durch Lernprozesse bildet.
Die Hintergrundtheorien lassen drei zentrale Merkmale der autogenen Selbstorganisation erkennen: Selbstreferenz, Pfadabhängigkeit und Indeterminiertheit. „ Selbstreferenz “ drückt aus, dass das Ergebnis auf seine eigenen Entstehungsbedingungen zurückwirkt und das Geschehen damit interdependent bzw. zirkulär wird. In der Synergetik erzeugt das Zusammenwirken von Teilen des Systems den „ Ordner “ , der wiederum den Teilen seine Ordnung aufzwingt. In autopoietischen Prozessen wird der Organismus erzeugt und erhalten, dessen Existenz unabdingbar für weitere Autopoiese ist. Die Umwelt selektiert einerseits Varianten im evolutionären Prozess der Entwicklung, erzeugt andererseits durch die selektierten Varianten wiederum Umwelt. Das Ergebnis der Prozesse verändert die Ausgangsbedingungen für die Fortsetzung des Prozesses. Deshalb kann ein einmal eingeschlagener Entwicklungspfad nicht mehr ohne weiteres verlassen werden. Man spricht hier von der Pfadabhängigkeit der Entwicklung oder von einem „ historischem Element “ der Selbstorganisation. Welchen Verlauf die Entwicklung nehmen wird, ist letztlich für einen Beobachter unvorhersagbar. Diese Indeterminiertheit der Prozesse rührt von Zufälligkeiten her. Selbst kleinste Änderungen in den Ausgangsbedingungen können letztlich (durch Selbstreferenz und Pfadabhängigkeit) zu gänzlich auseinander strebenden Entwicklungspfaden führen.

II. Hintergrundtheorien und Merkmale der autonomen Selbstorganisation


Dass die Organisationsmitglieder selbstbestimmt an der sie betreffenden Ordnung mitwirken, ist bereits ein Ergebnis der sog. Hawthorne-Experimente, welche im Human Relations-Ansatz ihren Niederschlag gefunden haben. In diesen Experimenten zeigte sich die von den Organisationsmitgliedern selbst erzeugte Informelle Organisation in Ausprägungen wie informelle Führung, Regeln und Gruppen. Von der verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungstheorie wissen wir, dass die Reichweite der Fremdbestimmung immer begrenzt und jede Organisation darauf angewiesen ist, dass ihre Mitglieder auch freiwillig ihr Wissen und Können bereitstellen. Zum Hintergrund der autonomen Selbstorganisation zählt auch die Interpretative Organisationsforschung, welche wiederum auf Basistheorien wie den Konstruktivismus, die Phänomenologie und Hermeneutik zurückverweist. Nach dieser Sichtweise bestimmen die Menschen grundsätzlich die sie umgebende Wirklichkeit mit, indem sie diese subjektiv wahrnehmen und interpretieren. Ordnung im sozialen Bereich bedeutet also auch, dass die Sinnsetzungs- und Sinndeutungsprozesse der Individuen zusammenpassen. Das gelingt i.Allg. über intersubjektiv geteilte Deutungsmuster, deren Entstehung wiederum durch verschiedene Modelle autogener Prozesse erklärt wird. Die Musterentstehung vollzieht sich durch Lernen (oft als Sozialisation, organisatorische bezeichnet), durch Evolution (vgl. Weick, Karl E.  1985, S. 178 ff.) oder auch durch Autopoiese (vgl. Maturana, Humberto R.  1985, S. 308).
Die zentralen Merkmale der autonomen Selbstorganisation sind Autonomie, Dezentralisation und Redundanz. Vertikale Autonomie meint im Unternehmen eine unscharf umrissene, relative Entscheidungsautonomie untergeordneter Organisationsmitglieder, horizontale Autonomie die Unabhängigkeit zwischen Bereichen auf der gleichen Hierarchieebene. Bei ausgeprägter Delegation (Zentralisation und Dezentralisation) von Entscheidungsbefugnissen auf untere Ebenen spricht man von Dezentralisation. Die Redundanz (Überfluss, Überreichlichkeit) ist ein weiteres Merkmal der Selbstorganisation (vgl. Probst, Gilbert J. B.  1987, S. 81). Auf Unternehmen übertragen meint Redundanz, dass mehrere Teile der Unternehmung dasselbe tun können. Redundanz erhöht die Autonomie, weil die Aktivitäten nicht aufgrund strikter Arbeitsteilung determiniert sind.

III. Ausprägungen der Selbstorganisation im Unternehmen


Wenn Menschen arbeitsteilig auf ein Ziel hinwirken sollen, muss das Handeln geordnet, d.h. „ normiert “ werden. In der BWL beschäftigt man sich erstens vor allem mit Normen des Aufbaus und des Ablaufs betrieblicher Prozesse im „ technischen “ Sinne. Durch Akte gezielter Strukturierung wird festgelegt, wer was, wann, wo usw. zu tun hat. Diese strukturellen Vorgaben definieren die geltende Ordnung aber nicht erschöpfend. Die Regeln des Umgangs miteinander, die sozialen Normen, ergänzen zweitens die technische Struktur. Gehen dem Handeln kognitive Prozesse der Sinnsetzung und Sinndeutung voraus, welche das Handeln beeinflussen, dann ist schließlich drittens auch in diesem Bereich eine gewisse Normierung notwendig. Die strukturergänzenden Ordnungsbestandteile (soziale Spielregeln, Deutungsnormen usw.) werden oft zur Organisationskultur gezählt, und es wird für erforderlich gehalten, Struktur und Kultur zu gestalten. In der Vorgabe von Führungsrichtlinien, Verhaltenskodizes und Unternehmensleitbildern äußert sich der Versuch einer Fremdorganisation der Kultur. In allen drei Bereichen (Aufbau- und Ablaufnormen, soziale Normen und Deutungsnormen) tritt aber auch autonome und autogene Selbstorganisation auf. Schwerpunktmäßig werden sich autogene Prozesse im Bereich der Deutungsnormen und der sozialen Normen abspielen, während im Bereich der Aufbau- und Ablaufnormen eher ein (begrenzt) rationaler autonomer Gestaltungsprozess möglich sein dürfte (vgl. Göbel, Elisabeth  1998, S. 99 ff.). Man spricht auch von einer direkten Partizipation der Mitarbeiter.

IV. Handlungsempfehlungen für die Praxis


Selbstorganisation kann Lücken der Fremdorganisation sinnvoll schließen und eine schlechte Fremdorganisation korrigieren, kann sich aber auch als Störfaktor erweisen. Die Betonung positiver Effekte der Selbstorganisation führt zur Empfehlung an die Praktiker, sie zu respektieren oder sogar bewusst zu fördern. Bei Betrachtung der negativen Effekte wird dagegen empfohlen, die Selbstorganisation zu kanalisieren.
Überwiegend als positiv und förderungswürdig wird die autonome Selbstorganisation des Aufbaus und Ablaufs betrachtet. Zentrale Argumente sind die bessere Nutzung des Wissens der Organisationsmitglieder, die erhöhte Flexibilität und Schnelligkeit sowie eine verbesserte Motivation und Personalentwicklung (vgl. Gebhardt, Wilfried  1996, S. 143 ff.). Die autonome Selbstorganisation muss durch Fremdorganisation vorbereitet werden. Durch die verstärkte Integration zuvor arbeitsteilig abgewickelter Schritte wird die horizontale Autonomie erweitert. Sind diese ganzheitlichen Aufgabenbündel neuartig und zeitlich begrenzt bei klarer Zielvorgabe, spricht man auch von Projekten. Solche Prozesse und Projekte werden auf Gruppen übertragen, deren Mitglieder Abstimmungsbedarf durch Selbstabstimmung lösen, und die auch –  je nach Autonomie – untereinander regeln, wer, wann, wo, was usw. zu tun hat. Die Anzahl solcher Regelungsalternativen steigt mit der polyvalenten Qualifikation der Teammitglieder (Redundanz). Bei weitgehender Dezentralisierung kann der Vorgesetzte eine große Leitungsspanne bewältigen, d.h. die Hierarchie wird flacher. Formalisierung wird reduziert. Veranschaulicht wird der notwendige Umbau der Struktur oft mit dem Bild, aus den bisherigen „ Palästen “ müssten „ Zelte “ werden (vgl. Hedberg, Bo L. T./Nystrom, Paul C./Starbuck, William H.  1976).
Auch die autogenen Prozesse werden z.T. positiv gewertet und es wird dem Praktiker empfohlen, sie wegen ihrer immanenten Rationalität zu forcieren. Strukturen sollen gestört oder aufgelöst sowie Inkonsistenzen, Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten zugelassen werden, um Varianten zu erzeugen (vgl. Weick, Karl E.  1985, S. 346 ff.). Man hofft, dass sich durch Evolution die beste Variante durchsetzt. In ähnlicher Weise werden ständige Experimente und sogar ein gewisses Maß an Chaos propagiert, um Lernprozesse in Gang zu setzen (vgl. Kriz, Jürgen  1997). Die autogenen Prozesse werden aber auch kritischer betrachtet, denn sie widersprechen dem Ideal rationaler Planung und Entscheidung. „ Von selbst “ entwickeln sich auch dysfunktionale Wahrnehmungsbarrieren und dicke Routineschichten, welche die Sicht auf Umweltänderungen verstellen und nötige Anpassungen verhindern. Die in ruhigen Zeiten durchaus positiv zu wertende Stabilisierung des Systems durch Selbstreferenz erweist sich in turbulenten Zeiten als Wandlungshemmnis. „ Von selbst “ entstehen auch die „ heimlichen Spielregeln “ im Unternehmen, welche oft diametral den offiziell propagierten Normen widersprechen (vgl. Scott-Morgan, Peter  1994). Diese weniger optimistische Sicht auf die autogene Selbstorganisation lässt es geboten erscheinen, sie zielgerichtet zu kanalisieren. Ob und wie man eine solche Einwirkung für möglich hält, hängt von der Rekonstruktion der zugrunde liegenden Prozesse ab. Fasst man die Selbstorganisation als Lernprozess auf, dann erscheint es durchaus möglich, durch eine Änderung des Lernkontextes auch die von selbst entstehenden Normen zu beeinflussen. Zu fragen ist vor allem, welche Anreize das Unternehmen setzt, denn ein belohntes Verhalten wird sich mit einiger Sicherheit „ spontan “ einstellen. Ein gezieltes Management der Evolution erfordert nicht nur die Zulassung von ausreichenden Varianten, sondern auch die Reflexion der Selektionsmechanismen und die bewusste Speicherung bewährter Lösungen. Bei einem autopoietischen Verständnis der Kulturentwicklung erscheint eine gezielte Gestaltung dagegen praktisch ausgeschlossen (vgl. Dietrich, Andreas  2001, S. 213).

V. Kritische Würdigung


Im Hinblick auf die autogene Selbstorganisation kann hinterfragt werden, ob naturwissenschaftliche Konzepte zu sozialen Systemen passen. Eine Kritik kann erstens am Ordnungsbegriff ansetzen. Ordnung in sozialen Systemen ist nicht identisch mit synergetischer Gleichschaltung, autopoietischer Systemerhaltung oder evolutionärer Umweltanpassung. Sie ist vielmehr „ erwünschte Handelnsordnung “ (Hayek, Friedrich August von  1969, S. 180), d.h. von selbst entstehende Muster können und sollen reflektiert, bewertet und evtl. korrigiert werden. Diese Kritik zieht zweitens die Frage nach der Steuerbarkeit der autogenen Prozesse nach sich. Eine zu naive Übertragung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse auf den Bereich sozialer Systeme lässt den Menschen zum hilflosen Spielball von naturwüchsigen Entwicklungen werden. Damit werden die Gestalter aus ihrer Verantwortung entlassen und Phänomene wie „ Macht “ und „ Interessen “ werden heruntergespielt. Die aus naturwissenschaftlichen Konzepten entwickelten Merkmale der Selbstreferenz, Pfadabhängigkeit und Indeterminiertheit können allerdings mit Gewinn auf soziale Systeme übertragen werden. Sie verweisen auf die Grenzen rationaler Gestaltung.
Im Bereich der autonomen Selbstorganisation hat sich gegenüber den Anfängen eine Akzentverschiebung ergeben. Wurde sie früher eher als Humanisierungskonzept propagiert, wird neuerdings viel stärker auf die potenziellen Effizienzgewinne verwiesen. Dies kann man als Harmonisierung von ethischen und ökonomischen Zielen begrüßen. Von beiden Seiten wird aber auch Kritik an der autonomen Selbstorganisation geübt. Mit Hinweisen auf Delegationskosten bzw. Anreiz- und Kontrollkosten (vgl. Milgrom, Paul/Roberts, John  1992) warnen Ökonomen vor einer bedenkenlosen Ausweitung der autonomen Selbstorganisation. Aus ethischer Sicht kann befürchtet werden, dass die Erweiterung der Autonomie letztlich doch nur einer verbesserten Instrumentalisierung des Personals Vorschub leistet, indem durch den Verkauf von „ Sinn, Spaß und Spielraum “ Selbstausbeutung begünstigt (vgl. Wittmann, Stephan  1998, S. 336 f.) und der Zugriff auf die Arbeitskraft noch umfassender wird (vgl. Moldaschl, Manfred  2002, S. 19).
Literatur:
Dietrich, Andreas : Selbstorganisation, Wiesbaden 2001
Gebhardt, Wilfried : Organisatorische Gestaltung durch Selbstorganistion, Wiesbaden 1996
Göbel, Elisabeth : Theorie und Gestaltung der Selbstorganisation, Berlin 1998
Hayek, Friedrich August von : Freiburger Studien, Tübingen 1969
Hedberg, Bo L. T./Nystrom, Paul C./Starbuck, William H. : Camping on Seesaws: Prescriptions for a Self-Designing Organization, in: ASQ, Jg. 21, 1976, S. 41 – 65
Foerster, Heinz von : Prinzipien der Selbstorganisation im sozialen und betriebswirtschaftlichen Bereich, in: Heinz v. Foerster, Wissen und Gewissen, hrsg. v. Schmidt, Siegfried J., 2. A., Frankfurt am Main 1994, S. 233 – 268
Kriz, Jürgen : Selbstorganisation als Grundlage lernender Organisationen, in: Handbuch Lernende Organisation, hrsg. v. Dr. Wieselhuber & Partner, Wiesbaden 1997, S. 187 – 196
Maturana, Humberto R. : Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, 2. A., Braunschweig et al. 1985
Milgrom, Paul/Roberts, John : Economics, Organization & Management, Upper Saddle River NJ 1992
Moldaschl, Manfred : Zukunftsfähige Arbeitswissenschaft, in: Neue Arbeit – Neue Wissenschaft der Arbeit?, hrsg. v. Moldaschl, Manfred, Heidelberg et al. 2002, S. 7 – 68
Nelson, Richard R. : Recent Evolutionary Theorizing About Economic Change, in: Theorien der Organisation, hrsg. v. Ortmann, Günther/Sydow, Jörg/Türk, Klaus, 2. A., Wiesbaden 2000, S. 81 – 123
Probst, Gilbert J. B. : Selbst-Organisation, Berlin et al. 1987
Scott-Morgan, Peter : Die heimlichen Spielregeln, Frankfurt am Main et al. 1994
Weick, Karl E. : Der Prozeß des Organisierens, Frankfurt am Main 1985
Wittmann, Stephan : Ethik im Personalmanagement, Bern et al. 1998

 

 


 

<< vorhergehender Begriff
nächster Begriff >>
Selbstliquidationsprinzip
 
Selbstversorgung